Woche der Solidarität mit den Völkern der Gebiete ohne Selbstregierung
Die Woche der Solidarität mit den Völkern der Gebiete ohne Selbstregierung (engl. International Week of Solidarity with the Peoples of Non-Self-Governing Territories) ist eine jährlich von den Vereinten Nationen ausgerufene Aktionswoche. Sie findet jeweils vom 25. bis 31. Mai statt und dient der Bekundung internationaler Unterstützung für Völker in kolonialen Gebieten, die noch keine Selbstregierung erreicht haben. Die Solidaritätswoche wurde durch Beschlüsse der UN-Generalversammlung initiiert und steht im Zusammenhang mit den globalen Entkolonisierungsbemühungen der Nachkriegszeit.
Herkunft und historischer Kontext
Die Ursprünge der Solidaritätswoche liegen in den frühen 1970er Jahren. Vor dem Hintergrund andauernder antikolonialer Befreiungskämpfe – insbesondere in Südafrika (gegen das Apartheidsregime) und den damals noch von Portugal beherrschten Gebieten in Afrika – beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 1972 die Ausrufung einer Solidaritätswoche. Erstmals begangen wurde sie ab dem 25. Mai 1973, dem Datum, das nicht zufällig gewählt war: Der 25. Mai ist der Afrikatag (Jahrestag der Gründung der Organisation für Afrikanische Einheit) und symbolisiert die Solidarität mit den kolonialisierten Völkern Afrikas. Die ursprüngliche Resolution proklamierte die „Woche der Solidarität mit den Völkern aller kolonialen Gebiete, die für Freiheit, Unabhängigkeit und Menschenrechte kämpfen“. Damit sollte weltweit Unterstützung für die letzten noch kämpfenden Unabhängigkeitsbewegungen mobilisiert werden.
In den folgenden Jahrzehnten veränderte sich der Charakter der Solidaritätswoche mit fortschreitender Entkolonisierung. Bis 1990 hatten die meisten vormals abhängigen Gebiete ihre Unabhängigkeit erlangt, doch einige Territorien verblieben unter fremder Verwaltung. Im Jahr 1999 bekräftigte die Generalversammlung die Bedeutung der Solidaritätswoche und rief dazu auf, sie jährlich zu begehen. Seitdem steht die Aktionswoche offiziell unter dem Titel „International Week of Solidarity with the Peoples of Non-Self-Governing Territories“, was den Fokus auf die verbliebenen Gebiete ohne Selbstregierung (im Sinne der UN-Charta) legt.
Völkerrechtlicher und politischer Rahmen
Die Entkolonisierung zählt zu den bedeutendsten Entwicklungen des 20. Jahrhunderts und wird oft als einer der ersten großen Erfolge der Vereinten Nationen angesehen. Seit Gründung der UNO 1945 sind über 80 ehemals abhängige Gebiete mit zusammen rund 750 Millionen Einwohnern in die Unabhängigkeit entlassen worden. Dieser Entkolonisierungsprozess beruhte völkerrechtlich auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, verankert in der UN-Charta. Die Generalversammlung bekräftigte dieses Prinzip insbesondere durch die Deklaration über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker von 1960, die feststellte, dass alle verbliebenen Kolonialgebiete ein unveräußerliches Recht auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit haben. Seither gilt die fortschreitende Auflösung kolonialer Abhängigkeitsverhältnisse als völkerrechtlich legitimiert und politisch erwünscht.
Im Rahmen der internationalen Politik dient die Solidaritätswoche dazu, an diesen Konsens zu erinnern und die Dekolonisierung als unvollendete Aufgabe ins Bewusstsein zu rufen. In den 1960er und 1970er Jahren hatten sich die neu unabhängigen Staaten Asiens und Afrikas in den Vereinten Nationen stark für die vollständige Abschaffung des Kolonialismus eingesetzt. Die Solidaritätswoche entstand in dieser Phase als politisches Signal der Weltgemeinschaft, dass die verbleibenden kolonialen Völker im Kampf um ihre Rechte nicht vergessen sind. Bis heute ist das Thema Selbstregierung in der UN-Agenda verankert: Die Generalversammlung verabschiedet regelmäßig Resolutionen, welche die fortbestehenden kolonialen Situationen verurteilen und das Recht der betroffenen Völker auf Selbstbestimmung betonen. Zudem wurde die Entkolonisierung in mehreren internationalen Verträgen und Gerichtsurteilen bestätigt – so erkennen etwa die beiden UN-Menschenrechtspakte von 1966 in Artikel 1 das Selbstbestimmungsrecht ausdrücklich an, und der Internationale Gerichtshof bekräftigte es in Gutachten (z. B. zum Status der Westsahara 1975 und zu den Chagos-Inseln 2019).
Rolle der Vereinten Nationen und „Non-Self-Governing Territories“
Die Vereinten Nationen spielen eine zentrale Rolle bei der Betreuung der verbliebenen kolonialen Gebiete, die offiziell als „Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung“ (Non-Self-Governing Territories, NSGT) bezeichnet werden. Bereits die UN-Charta verpflichtet Mitgliedstaaten, die Verantwortung für solche Gebiete tragen, das Wohl ihrer Bewohner zu fördern und den Fortschritt hin zur Selbstregierung zu unterstützen. Unmittelbar nach Verabschiedung der Dekolonisierungsdeklaration 1960 etablierte die UNO das Sonderkomitee für Entkolonisierung (auch Committee of 24 genannt), das seither die Situation in den NSGT überwacht. Dieses Gremium erfasst die Berichte der Verwaltungsstaaten, hört Petitionen von Vertreter*innen der Gebiete und gibt Empfehlungen an die Generalversammlung ab. Die UN-Generalversammlung selbst behält sich das Recht vor, über die Streichung von Gebieten von der Liste der NSGT zu entscheiden – ein Prozess, der etwa bei Puerto Rico oder Grönland erfolgte, als diese als hinreichend selbstregiert galten.
Trotz des gewaltigen Fortschritts der 1960er Jahre befinden sich heute noch 17 Territorien auf der UN-Liste der Gebiete ohne Selbstregierung. Dabei handelt es sich großteils um kleine Inselgebiete in der Karibik und im Pazifik, die zumeist Überseegebiete westlicher Staaten sind. Beispiele sind britische Übersee-Territorien wie Anguilla, die Cayman Islands oder die Falklandinseln, Pazifikinseln wie Tokelau (Neuseeland) und Guam (USA) oder französische Gebiete wie Neukaledonien und Französisch-Polynesien. Auch das Gebiet der Westsahara steht weiterhin auf der Liste – es gilt als letztes größeres Kolonialgebiet Afrikas und ist völkerrechtlich bislang weder unabhängig noch einem souveränen Staat angegliedert. Gemeinsam haben diese Territorien, dass ihre Bevölkerung bislang keine volle Selbstregierung erlangt hat. Die Vereinten Nationen sehen es als ihre Aufgabe an, in Zusammenarbeit mit den Verwaltungsmächten auf Lösungen im Sinne der jeweiligen Bevölkerung hinzuarbeiten. Dazu zählen Optionen wie Unabhängigkeit, freie Assoziierung mit dem Mutterland oder Integration in den Verwaltungsstaat – je nachdem, wofür sich die Einwohner demokratisch aussprechen.
Aktuelle Relevanz und Beispiele betroffener Gebiete
Obwohl die klassische Kolonialzeit historisch überwunden scheint, ist die Solidaritätswoche weiterhin aktuell, da in den verbleibenden 17 Gebieten rund 2 Millionen Menschen leben, die formell noch unter kolonialer Hoheit stehen. Einige dieser Territorien sind Gegenstand anhaltender politischer Konflikte. Ein prominentes Beispiel ist die Westsahara: Das Gebiet wird von Marokko beansprucht, obwohl die UN es weiterhin als Nicht-Selbstregierungs-Gebiet führen. Seit 1991 versucht die UNO dort – bislang vergeblich – ein Referendum über den zukünftigen Status abzuhalten. Die Sahraui-Bevölkerung wartet somit seit Jahrzehnten auf die Gelegenheit, ihr Selbstbestimmungsrecht auszuüben. Ein anderes Beispiel ist der Falklandinseln-Konflikt: Die Inselgruppe wird vom Vereinigten Königreich verwaltet, aber von Argentinien beansprucht. Einwohnerbefragungen ergaben allerdings eine überwältigende Zustimmung der Falklandinsulaner zum Verbleib unter britischer Verwaltung.
Viele der übrigen Gebiete sind klein und dünn besiedelt, was besondere Herausforderungen mit sich bringt. So haben einige Inselpopulationen gar kein Interesse an voller staatlicher Unabhängigkeit gezeigt, sondern bevorzugen den Status quo mit Autonomie unter dem bisherigen Staat. Ein Beispiel ist Bermuda, wo 1995 in einem Referendum rund 74 % der Wähler gegen die Unabhängigkeit stimmten. Auch Tokelau entschied sich in zwei Referenden (2006 und 2007) knapp gegen eine Loslösung von Neuseeland. Diese Fälle unterstreichen, dass Selbstbestimmung nicht zwingend mit souveräner Unabhängigkeit gleichzusetzen ist – die freie Wahl der politischen Zukunft (inklusive enger Assoziation oder Integration) ist das Kernanliegen. Andere Gebiete wiederum haben den Prozess der Selbstbestimmung noch nicht abgeschlossen. In Neukaledonien fanden zwischen 2018 und 2021 drei Referenden über die Unabhängigkeit von Frankreich statt, die jedoch – teils bei Boykott durch Unabhängigkeitsbefürworter – mehrheitlich für einen Verbleib bei Frankreich ausgingen. Solche Entwicklungen zeigen, dass die Dekolonisierung heute oft komplexe Abstimmungs- und Aushandlungsprozesse umfasst, anstatt rein kämpferischer Auseinandersetzungen wie in früheren Jahrzehnten.
Trotz dieser unterschiedlichen Situationen bleibt das Recht auf Selbstbestimmung der gemeinsame Nenner. Die Vereinten Nationen betonen, dass jedes verbleibende Territorium individuell betrachtet werden muss und „Aufmerksamkeit verdient, bis es gemäß der UN-Charta und einschlägiger Resolutionen Selbstregierung erreicht hat“. Die aktuelle Relevanz der Solidaritätswoche liegt somit darin, Jahr für Jahr darauf hinzuweisen, dass das Kapitel Kolonialismus noch nicht vollständig geschlossen ist und weiterhin politisches Engagement erfordert.
Zugleich ergeben sich neue Herausforderungen, welche die Bedeutung der Solidaritätswoche unterstreichen. Viele der verbliebenen Gebiete sind Kleinstinseln, die besonders anfällig für wirtschaftliche Probleme und die Folgen des Klimawandels sind. UN-Generalsekretär António Guterres wies darauf hin, dass etliche dieser Territorien „an vorderster Front des Klimanotstands“ stehen und unter steigenden Meeresspiegeln und Extremwetterereignissen leiden. Ihre geringe Bevölkerungsgröße und abgelegene Lage machen sie außerdem verwundbar gegenüber begrenzten Bildungs- und Entwicklungschancen. In diesem Sinne verbindet sich in der aktuellen Diskussion über die NSGT das klassische Anliegen der politischen Emanzipation mit den Zielen nachhaltiger Entwicklung. Die Solidaritätswoche bietet einen Rahmen, um auf beide Aspekte – Selbstbestimmungsrechte und Entwicklungsbedürfnisse – aufmerksam zu machen.
Begehung der Solidaritätswoche
Die Woche der Solidarität wird vor allem auf Ebene der Vereinten Nationen und ihrer Mitgliedstaaten begangen. Die UN-Generalversammlung fordert alle Mitgliedsländer dazu auf, diese Woche offiziell zu würdigen und dadurch ihre Unterstützung für die Selbstbestimmungsrechte der betroffenen Völker zu bekunden. In der Praxis findet die Begehung zum großen Teil in Form von Veranstaltungen, Konferenzen und Stellungnahmen statt, die rund um den 25.–31. Mai organisiert werden. Insbesondere das UN-Sonderkomitee für Entkolonisierung (C‑24) hält in diesem Zeitraum häufig Regionalseminare in oder für die noch verbliebenen Territorien ab. So veranstaltete das Komitee 2023 ein Seminar in Bali (Indonesien) vom 24. bis 26. Mai, bei dem Delegierte und Vertreter der Gebiete Möglichkeiten erörterten, den Dekolonisierungsprozess zu beschleunigen und die Agenda 2030 (Nachhaltigkeitsziele) in diesen Territorien voranzubringen. Solche Treffen bieten auch Raum für Petitionen: Vertreter der Bevölkerung aus den Gebieten ohne Selbstregierung tragen regelmäßig vor dem Komitee ihre Anliegen, Sorgen und Wünsche vor. Im Jahr 2022 etwa nahmen Petenten aus 13 der 17 Gebiete an den Beratungen des Komitees teil, was die fortdauernde aktive Beteiligung der Kolonialvölker am Prozess zeigt.
Parallel dazu nutzen hochrangige UN-Vertreter die Solidaritätswoche, um politische Schlüsselbotschaften zu setzen. Der Generalsekretär oder sein Stellvertreter richten häufig zu Beginn der Woche Appelle an die Weltöffentlichkeit, in denen sie zur Vollendung der Entkolonisierung aufrufen. Beispielsweise betonte UN-Generalsekretär Guterres in einer Videobotschaft zur Solidaritätswoche im Mai 2023, dass nun „neue Wege und stärkere Kooperation“ nötig seien, um die letzten kolonialen Gebiete bei der Erreichung von Selbstregierung und nachhaltiger Entwicklung zu unterstützen. Er rief die internationale Gemeinschaft dazu auf, den verbliebenen Territorien mehr Aufmerksamkeit und Ressourcen zukommen zu lassen, damit diese ihre Zukunftsfähigkeit stärken können. Zudem werden während der Solidaritätswoche oft Resolutionen oder Erklärungen verabschiedet, die den politischen Willen der UN-Mitgliedstaaten bekräftigen, den Kolonialismus gänzlich zu überwinden. So hat die Generalversammlung ab 1990 bereits vier „Internationale Dekaden zur Beseitigung des Kolonialismus“ ausgerufen – aktuell die vierte Dekade 2021–2030 –, um den fortdauernden Einsatz in diesem Bereich zu unterstreichen.
Auf nationaler Ebene finden in einigen Ländern ebenfalls Aktivitäten statt, insbesondere in solchen Staaten, die noch Gebiete unter ihrer Verwaltung haben oder die traditionell die Entkolonisierung unterstützen. Diese Aktivitäten reichen von Bildungsveranstaltungen, Pressemitteilungen bis hin zu Parlamentsdebatten, in denen der Stand der Dekolonisierung erörtert wird. Internationale Organisationen und zivilgesellschaftliche Gruppen (z. B. Solidaritätskomitees für bestimmte Gebiete) nutzen die Woche, um durch Konferenzen, Ausstellungen oder Medienbeiträge auf die Situation der betreffenden Völker aufmerksam zu machen. Dabei werden oft Beispiele erfolgreicher Unabhängigkeitsbewegungen der Vergangenheit erinnert, aber auch die aktuellen Hindernisse (politischer Stillstand, wirtschaftliche Abhängigkeit, Umweltprobleme) benannt, die in den verbliebenen Gebieten überwunden werden müssen.
Insgesamt ist die Woche der Solidarität mit den Völkern der Gebiete ohne Selbstregierung ein fest etablierter Gedenk- und Aktionszeitraum im Kalender der Vereinten Nationen. Sachlich-informativ – ganz im Sinne eines Lexikon-Eintrags – soll sie Regierungen wie Öffentlichkeit jährlich vor Augen führen, dass das Prinzip der Selbstbestimmung universell gilt und die internationale Gemeinschaft weiterhin gefordert ist, dieses Prinzip überall zur vollen Verwirklichung zu bringen.
 
