Internationaler Inkontinenztag: Schluss mit dem Tabu Inkontinenz

Ein Tabuthema rückt in den Fokus

Lange Zeit wurde über Inkontinenz kaum gesprochen – das Thema galt als peinlich und wurde totgeschwiegen. Noch heute wird Blasenschwäche oft als „Alte-Leute-Problem“ abgetan, dabei leiden in Deutschland Schätzungen zufolge rund 10 Millionen Menschen darunter. Weltweit sind es sogar um die 200 Millionen Betroffene. Aus Scham suchen viele keinen Arzt auf: Bis zu 60 % der Patientinnen und Patienten wagen nicht den Gang in die Praxis, obwohl viele Formen der Inkontinenz behandelbar wären. Mit dem Internationalen Inkontinenztag am 30. Juni soll dieses Schweigen gebrochen und das Tabuthema ins Rampenlicht gerückt werden.

Ursprung eines Aktionstags

Um das Bewusstsein für Inkontinenz zu schärfen und Stigmatisierung abzubauen, rief die Internationale Kontinenz-Gesellschaft (International Continence Society, ICS) im Jahr 2009 die Welt-Kontinenz-Woche ins Leben. Diese jährliche Aktionswoche Ende Juni wird weltweit von Fachorganisationen, Kliniken und Selbsthilfegruppen unterstützt. Im Rahmen der Kampagne findet jeweils am 30. Juni der Internationale Inkontinenztag statt. In Deutschland koordiniert die 1987 gegründete Deutsche Kontinenz Gesellschaft e.V. die Veranstaltungen der Aktionswoche und des Inkontinenztags. „Weltinkontinenztag“ – so wird der Tag auch genannt – und Kontinenzwoche dienen demselben Ziel: Aufklärung über Harn- und Stuhlinkontinenz, Enttabuisierung des Themas und Hilfe für Betroffene.

Millionen leiden im Verborgenen

Inkontinenz – der medizinische Oberbegriff für unwillkürlichen Harn- oder Stuhlabgang – ist eine Volkskrankheit. Etwa 10–20 % der Bevölkerung sind betroffen, wobei die Häufigkeit mit dem Alter zunimmt. Statistisch gesehen erlebt jede vierte Frau im Laufe ihres Lebens Episoden unkontrollierten Urinverlusts. Doch das Leiden bleibt oft unsichtbar: Aus Furcht vor Spott oder Scham ziehen sich viele Betroffene aus dem sozialen Leben zurück. „Inkontinenz ist sehr persönlich und mit Schamgefühlen verbunden. Trotzdem darf es für uns als Gesellschaft kein Tabu-Thema mehr sein“, mahnt Stefan Schwartze, der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Patient*innen. Er verweist darauf, dass in Deutschland rund 10 Millionen Menschen mit Inkontinenz leben – die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen. Obwohl die Einschränkung für viele zum Alltag gehört, sprechen die wenigsten offen darüber. Die Folge sind Isolation, seelischer Druck und oft auch gesundheitliche Verschlechterung, weil medizinische Hilfe zu spät gesucht wird.

Aufklärung und Enttabuisierung

Der Internationale Inkontinenztag will das Thema buchstäblich aus der Toilette holen. Bundesweit und international organisieren Fachverbände, Kliniken und Initiativen rund um den 30. Juni Informationsveranstaltungen, Aktionstage und Medienkampagnen. Die Deutsche Kontinenz Gesellschaft etwa bietet kostenlose Vorträge und Fragerunden mit Expertinnen und Experten an; auch viele Krankenhäuser, Pflegeheime, Apotheken und Wohlfahrtsverbände (wie Caritas oder AWO) beteiligen sich mit Aktionen. In diesem Jahr nutzte etwa die Universität zu Lübeck den Inkontinenztag, um bei einem Info-Nachmittag über Behandlungsmöglichkeiten und Anlaufstellen zu informieren. Die Kernbotschaft all dieser Aktionen: Inkontinenz darf kein Tabu bleiben. Betroffene sollen ermutigt werden, sich frühzeitig Hilfe zu holen, denn moderne Therapien bieten in vielen Fällen Aussicht auf Besserung oder Heilung. Zugleich wird die breite Öffentlichkeit über Ursachen und Prävention aufgeklärt – von Beckenbodentraining bis hin zu neuen operativen Verfahren. Ärzte weisen darauf hin, dass schon Lebensstiländerungen wie Gewichtsreduktion und regelmäßiges Beckenbodentraining die Symptome deutlich lindern können. Durch offene Information soll die Scham genommen werden: Inkontinenz ist keine seltene Ausnahme, sondern „alles andere als außergewöhnlich“ – ein Problem, das jede und jeden treffen kann, vom jungen Menschen bis zur Seniorin.

Selbsthilfegruppen schlagen Alarm

Wichtige Verbündete im Kampf gegen das Inkontinenz-Tabu sind Selbsthilfeorganisationen. Der Verein Inkontinenz Selbsthilfe e.V. wurde 2006 von Betroffenen gegründet und zählt heute über 6.000 Mitglieder. In seinem Online-Forum tauschen sich Leidtragende anonym aus, brechen gemeinsam das Schweigen und geben einander Mut. „Wir sind wie eine Familie, die einander versteht und nicht alleine lässt“, beschreibt der Verein das solidarische Miteinander. Neben der persönlichen Unterstützung betreibt die Organisation aktive Aufklärungsarbeit – zum Beispiel mit Expertenvorträgen während der Welt-Kontinenz-Woche – und vertritt die Interessen der Betroffenen auch politisch. Selbsthilfegruppen fordern etwa, Inkontinenz aus der Tabuzone zu holen und die Versorgungslage zu verbessern. Denn noch immer berichten Patienten von Hürden bei der Kostenübernahme für Hilfsmittel oder zu wenig spezialisierten Beratungsangeboten vor Ort.

Gesundheitspolitik und Versorgung

Die wachsende Zahl an Inkontinenz-Betroffenen stellt auch das Gesundheitssystem vor Herausforderungen. Viele Patientinnen und Patienten sind auf Hilfsmittel wie Vorlagen, Katheter oder spezielle Windeln angewiesen – doch die Versorgung ist oft kompliziert und bürokratisch. Zum Internationalen Inkontinenztag 2023 appellierte Patientenbeauftragter Stefan Schwartze an die Krankenkassen, den Zugang zu Hilfsmitteln und deren Finanzierung zu erleichtern. Er betonte, dass Betroffene nicht nur mit sozialen Problemen kämpfen, sondern häufig auch um eine angemessene Hilfsmittelversorgung ringen müssen. Auch der Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) forderte zum Aktionstag „mehr Teilhabe durch passgenaue Versorgung“ und wies darauf hin, dass moderne Inkontinenzhilfen die Lebensqualität deutlich steigern können. Positive Signale kommen von den Kassen: So veröffentlichen Krankenkassen wie die AOK eigene Ratgeber und Pressebeiträge, um über Inkontinenz aufzuklären und Betroffene zu ermutigen. Daten der AOK Baden-Württemberg zeigen, dass 2023 knapp 6 % ihrer Versicherten wegen Inkontinenz in Behandlung waren – rund 265.000 Menschen allein in einem Bundesland. Diese Zahlen machen deutlich, wie verbreitet das Leiden ist, und untermauern die Forderung nach einem enttabuisierten Umgang und besseren Versorgungsstrukturen.

Mediale Aufmerksamkeit nimmt zu

Lange fristete das Thema Inkontinenz ein Schattendasein in der Öffentlichkeit. Doch die Zeiten ändern sich langsam: Medien und Öffentlichkeit schenken dem Problem zunehmend Beachtung. Jedes Jahr rund um den 30. Juni häufen sich Artikel in Gesundheitsmagazinen, Radiointerviews und TV-Beiträge, die das Tabuthema beleuchten. Die Aktionswoche und der Inkontinenztag gewinnen spürbar an Profil – mit zahlreichen Beiträgen und Web-Seminaren, in denen Fachleute informieren und Betroffene zu Wort kommen. Auch prominente Gesundheitsorganisationen machen mit. So hat die Weltgesundheitsorganisation wiederholt betont, wie wichtig Aufklärung über Blasen- und Darmschwäche ist, und das Thema in Kampagnen aufgegriffen. In den sozialen Netzwerken teilen Betroffene ihre Geschichten unter Hashtags wie #Inkontinenz und #WorldContinenceWeek, um anderen Mut zu machen. Schritt für Schritt bröckelt das Tabu.

Fazit: Enttabuisieren und helfen

Der Internationale Inkontinenztag steht exemplarisch für einen Wandel im Umgang mit einer weitverbreiteten, aber lange verschwiegenen Gesundheitsproblematik. Medizinisch gibt es heute vielfältige Behandlungsmöglichkeiten, von Beckenbodentraining und Medikamenten bis zu operativen Therapien. Gesellschaftlich jedoch bleibt die größte Herausforderung, Vorurteile abzubauen und Empathie zu fördern. Die Botschaft des Aktionstags lautet: Inkontinenz kann jeden treffen, und niemand soll sich dafür schämen müssen. Offenheit, Aufklärung und gegenseitige Unterstützung – darauf basiert der Erfolg der Kampagne. Wenn dank Initiativen wie dem Inkontinenztag künftig mehr Menschen frühzeitig ärztliche Hilfe suchen und sich weniger Menschen aus Scham zurückziehen, ist viel gewonnen. Denn letztlich geht es darum, Millionen Betroffenen ein lebenswertes, würdevolles Leben zu ermöglichen – ohne Tabus und ohne unnötige Hürden.

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