Tag der Gebärdensprache in Deutschland
Herkunft und geschichtlicher Hintergrund
Der Tag der Gebärdensprache hat seine Wurzeln in der internationalen Gehörlosenbewegung. Der Weltverband der Gehörlosen (World Federation of the Deaf, WFD) wurde am 23. September 1951 gegründet und rief bereits in den 1950er Jahren einen weltweiten Gedenktag für Gehörlose ins Leben. Seit Mitte der 1970er Jahre wird ein solcher Tag der Gehörlosen auch in Deutschland begangen. Traditionell findet er am letzten Sonntag im September statt und macht auf die Situation der rund 80.000 Gehörlosen in Deutschland aufmerksam.
Auf internationaler Ebene wurde diese Idee später noch ausgebaut: Die Vereinten Nationen erklärten 2017 den 23. September offiziell zum Internationalen Tag der Gebärdensprachen. Als Datum wählte man bewusst den Gründungstag des WFD, um den historischen Bezug herzustellen. Erstmals begangen wurde dieser Aktionstag am 23. September 2018. In Deutschland wird seither der Tag der Gebärdensprache im Rahmen der Internationalen Woche der Gehörlosen gefeiert, oft mit Aktionen über den gesamten September verteilt. Ins Leben gerufen und organisiert wird er hierzulande vor allem durch die Gehörlosenverbände und -vereine, allen voran den Deutschen Gehörlosen-Bund (DGB).
Bedeutung für die Gehörlosengemeinschaft
Für die Gehörlosengemeinschaft in Deutschland hat dieser Aktionstag einen hohen Stellenwert. Gebärdensprache – in Deutschland die Deutsche Gebärdensprache (DGS) – ist für viele gehörlose Menschen nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern ein zentraler Bestandteil ihrer Identität und Kultur. Die DGS ist eine eigenständige, vollwertige Sprache mit eigener Grammatik und Ausdrucksweise, die von Geburt an für viele Gehörlose Muttersprache ist. Entsprechend dient der Tag der Gebärdensprache der Würdigung ihrer Sprache und Kultur und stärkt das Gemeinschaftsgefühl der Deaf Community. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier betonte anlässlich des Aktionstags 2020 treffend, die Deutsche Gebärdensprache gehöre „zu unserem Land“ und „mitten in unsere Gesellschaft“, denn sie überwinde Barrieren zwischen den Menschen. Diese öffentliche Anerkennung unterstreicht die Bedeutung der Gebärdensprache und vermittelt der Gehörlosengemeinschaft, dass ihre Sprache gesehen und geschätzt wird.
Zugleich macht der Aktionstag die Mehrheitsgesellschaft auf die Lebenswirklichkeit gehörloser Menschen aufmerksam. Für viele von ihnen ist die Schriftsprache quasi eine Fremdsprache, während die Gebärdensprache ihre Muttersprache ist. Fehlen wichtige Informationen in DGS – etwa Nachrichten, amtliche Mitteilungen oder Bildungsinhalte – führt das zu erheblichen Teilhabeeinschränkungen. Der Tag der Gebärdensprache sensibilisiert daher dafür, wie essenziell die Gebärdensprache für Inklusion und Chancengleichheit der Gehörlosen ist. Er vermittelt hörenden Menschen Einblicke in die Gehörlosenkultur und fördert Verständnis sowie Respekt im Miteinander.
Ziel und Anliegen des Aktionstags
Der Tag der Gebärdensprache verfolgt das übergeordnete Ziel, die Gebärdensprache und die Rechte gehörloser Menschen sichtbar zu machen und zu stärken. Einerseits soll der Status der Gebärdensprache gefördert und ihr Stellenwert in der Gesellschaft geschützt werden. Andererseits nutzt die Gehörlosengemeinschaft diesen Tag, um auf bestehende Barrieren und Missstände hinzuweisen und konkrete Verbesserungen einzufordern. Alle Menschen – ob mit oder ohne Hörbehinderung – sollen realitätsnah über Gehörlosigkeit, Gebärdensprache und Gehörlosenkultur informiert und aufgeklärt werden.
Ein zentrales Anliegen ist dabei die Inklusion: Gehörlose wollen gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben, was nur mit Barrierefreiheit in Kommunikation und Information möglich ist. So wird z. B. kritisiert, dass Inklusion oft auf technische Hilfsmittel oder den Einsatz von Dolmetschern reduziert wird – damit erwartet man implizit, dass Gehörlose die Kommunikationshürden allein überwinden. Echter Abbau von Barrieren erfordert jedoch auch ein Umdenken der Hörenden. Der Deutsche Gehörlosen-Bund fordert etwa von der Politik, dass jeder Bürger das Recht haben muss, Gebärdensprache kostenlos zu erlernen – bereits in der Schule und später im Erwachsenenalter. Solche Forderungen zielen darauf ab, Gebärdensprache als natürlichen Bestandteil der Bildungslandschaft zu etablieren und so langfristig Barrieren abzubauen.
Darüber hinaus werden am Tag der Gebärdensprache regelmäßig politische Forderungen adressiert, um die Lebenssituation gehörloser Menschen zu verbessern. Beispiele sind der flächendeckende Einsatz von Gebärdensprachdolmetscher*innen in Behörden und im Gesundheitswesen, die Einführung bilingualer (Laut- und Gebärdensprache) Bildung für hörgeschädigte Kinder, bessere Zugänglichkeit von Medienangeboten in DGS sowie barrierefreie Notrufsysteme. Der Aktionstag bietet eine Bühne, um solche Anliegen öffentlich zu machen und Entscheidungsträger zum Handeln aufzufordern. Letztlich geht es um Sichtbarkeit, Inklusion und Gleichberechtigung – die Gebärdensprache soll als gleichwertige Sprache anerkannt sein und gehörlose Menschen sollen die gleichen Chancen und Rechte genießen wie Hörende.
Veranstaltungen und typische Aktionen rund um den Tag
Rund um den Tag der Gebärdensprache finden in ganz Deutschland vielfältige Aktionen und Veranstaltungen statt. Oft organisieren die regionalen Gehörlosenverbände im September öffentliche Aktionstage, um über Gebärdensprache und Gehörlosigkeit zu informieren. Häufig gibt es Infostände in Fußgängerzonen, an denen Hörende erste Gebärden lernen können oder sich über Angebote für Hörgeschädigte informieren. Auch Gebärdensprachkurse zum Schnuppern, Workshops und Vorträge gehören zu den typischen Aktionen. Nicht selten werden zudem Demonstrationen oder Flashmobs veranstaltet, um lautstark – bzw. sichtbar in Gebärdensprache – auf die Rechte und Belange der Gehörlosen aufmerksam zu machen.
Ein wichtiger Aspekt ist außerdem die Kultur der Gehörlosengemeinschaft, die an diesem Tag gefeiert und präsentiert wird. Zahlreiche Veranstaltungen widmen sich der Gehörlosenkultur: So gibt es Theaterstücke in Gebärdensprache, Poetry Slams oder Poesievorträge in DGS, visuelle Musik-Performances und Kunstinstallationen von gehörlosen Künstler*innen. Solche Events zeigen eindrucksvoll die kulturelle Vielfalt und Kreativität der Community und verdeutlichen, dass Gehörlosigkeit keine Einschränkung der Ausdrucksfähigkeit bedeutet, sondern eine eigene, gleichwertige Weise der Kommunikation darstellt.
Auch politische Events finden statt. Der Deutsche Gehörlosen-Bund veranstaltet z. B. oft zentrale Veranstaltungen mit Podiumsdiskussionen oder Online-Livestreams, bei denen Politiker*innen, Beauftragte der Bundesregierung und Verbandsvertreter Grußworte halten. 2021 etwa wurde im Rahmen eines Live-Streams ein vom Gehörlosen-Bund produzierter Film über die politischen Forderungen gehörloser Menschen uraufgeführt und eine Gebärdensprach‐Performance gezeigt. Begleitet werden solche Events durch Social-Media-Aktionen (häufig mit Hashtags wie #IDSL oder #TagDerGebärdensprache) und Kampagnen – beispielsweise wurden vom DGB Postkarten mit Botschaften zur Bedeutung der Gebärdensprache in Schulen verbreitet. Sämtliche Veranstaltungen sind selbstverständlich barrierefrei gestaltet, d.h. es wird simultan in Laut- und Gebärdensprache gedolmetscht. Insgesamt zeichnet sich der Tag durch ein buntes Programm aus Information, Bildung, Protest und Kultur aus, das die Anliegen der Gehörlosengemeinschaft einem breiten Publikum näherbringt.
Einbettung in internationale Zusammenhänge
Der Tag der Gebärdensprache in Deutschland ist Teil einer globalen Bewegung für die Rechte gehörloser Menschen. Jährlich in der letzten Septemberwoche begeht die Gehörlosengemeinschaft weltweit die International Week of Deaf People (Internationale Woche der Gehörlosen). Diese Aktionswoche wurde vom WFD als Erweiterung des Gedenktags etabliert und steht jedes Jahr unter einem besonderen Motto, das aktuelle Schwerpunktthemen wie Bildung, Menschenrechte, Barrierefreiheit oder Gebärdensprache hervorhebt. Höhepunkt der Woche ist der Tag der Gehörlosen am letzten September-Sonntag, der international begangen wird. In der Praxis werden die Begriffe „Tag der Gehörlosen“ und „Tag der Gebärdensprache“ heute oft nebeneinander verwendet – sie dienen demselben Anliegen, wobei ersterer traditionell die Community fokussiert und letzterer explizit die Sprache hervorhebt.
Speziell der 23. September als Internationaler Tag der Gebärdensprachen verankert den deutschen Aktionstag in einem weltweiten Kontext. Dieser Datum wurde – wie erwähnt – 2017 von den Vereinten Nationen ausgerufen, um die Bedeutung der Gebärdensprachen für die rund 70 Millionen Gehörlosen weltweit zu würdigen. In über 130 Ländern finden an diesem Tag Veranstaltungen und Aktionen statt, um Gebärdensprachen sichtbar zu machen und politische Unterstützung einzufordern. In Deutschland stellt man an diesem Datum bewusst den Bezug zur Deutschen Gebärdensprache her und beteiligt sich an den internationalen Kampagnen, behält aber den lokalen Fokus: So werden z. B. oft parallele Aktionen durchgeführt, die sowohl die weltweite Botschaft (etwa durch Verwendung des offiziellen UN-Mottos oder der Flagge der Gebärdensprachgemeinschaft) als auch spezifische nationalen Themen einschließen. Der deutsche Gehörlosen-Bund arbeitet hierfür mit dem WFD zusammen und bringt die globalen Ziele auf die hiesige Ebene. Insgesamt ist der Tag der Gebärdensprache somit fest in internationale Zusammenhänge eingebettet, was der Gehörlosengemeinschaft in Deutschland auch ein Gefühl von globaler Solidarität verleiht.
Gesetzliche und gesellschaftliche Entwicklungen zur Gebärdensprache
In den letzten Jahrzehnten gab es in Deutschland bedeutende Fortschritte hinsichtlich der Anerkennung und Förderung der Gebärdensprache. Ein Meilenstein war das Jahr 2002: Damals wurde die Deutsche Gebärdensprache durch eine Novelle des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) erstmals gesetzlich als eigenständige Sprache anerkannt. Wörtlich heißt es seither in § 6 Abs. 1 BGG: „Die Deutsche Gebärdensprache ist als eigenständige Sprache anerkannt.“ Diese formale Anerkennung markierte einen Wendepunkt und war das Ergebnis jahrelanger Forderungen der Gehörlosenverbände.
In den Folgejahren wurden nach und nach weitere Rechte verankert. So haben gehörlose Menschen seit 2017 einen gesetzlichen Anspruch auf Gebärdensprachdolmetscher in wichtigen Lebensbereichen, etwa bei Gerichtsverfahren. Dies erleichtert den Zugang zum Rechtssystem und anderen öffentlichen Diensten erheblich. Parallel dazu gewinnt die Gebärdensprache auch kulturell an Anerkennung: 2021 wurde die Deutsche Gebärdensprache in das bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Dieser Schritt würdigt die DGS als lebendigen Teil der deutschen Kultur und unterstreicht ihren Wert, der über die reine Kommunikationsfunktion hinausgeht.
Trotz dieser positiven Entwicklungen bestehen weiterhin Herausforderungen. Die Umsetzung der Barrierefreiheit im Alltag ist noch lückenhaft, obwohl Deutschland seit 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ratifiziert hat. Noch immer fehlt es in vielen Bereichen an regelmäßigen Informationen in Gebärdensprache – sei es auf Behördenwebsites, im Fernsehen oder bei Notfallinformationen. Während z. B. in der COVID-19-Pandemie inzwischen Pressekonferenzen der Bundesregierung von Gebärdensprachdolmetschern begleitet wurden, sind solche Angebote nicht überall selbstverständlich. Gesellschaftlich zeigt sich jedoch ein Trend zu mehr Sichtbarkeit: Öffentliche Veranstaltungen werden häufiger in DGS übersetzt, einige Fernsehsender bieten Nachrichten mit Gebärdensprach-Overlay an, und Online-Videoinhalte mit Gebärdensprach-Einblendungen nehmen zu. Zudem geben Projekte wie gebärdensprachliche Theatergruppen oder YouTube-Kanäle von gehörlosen Creator*innen der DGS mehr Präsenz in der Öffentlichkeit.
Auf gesetzlicher Ebene plant die Politik weitere Verbesserungen. So sieht der aktuelle Koalitionsvertrag vor, die Barrierefreiheit auch im privaten Sektor auszubauen – was perspektivisch mehr Pflichtangebote in Gebärdensprache bedeuten könnte. Der Bundesbehindertenbeauftragte Jürgen Dusel fordert unter anderem, das Merkzeichen „GL“ (gehörlos) im Schwerbehindertenausweis endlich mit einem direkten Rechtsanspruch auf Finanzierung von Gebärdensprachleistungen zu verknüpfen. Dies würde die Teilhabe im Alltag – etwa durch Dolmetscherstunden für Arztbesuche oder Weiterbildungen – deutlich erleichtern. Insgesamt ist zu beobachten, dass Gebärdensprache heute wesentlich breiter anerkannt ist als noch vor wenigen Jahrzehnten, doch die vollständige Barrierefreiheit und Inklusion sind noch im Werden. Der Tag der Gebärdensprache bleibt daher ein wichtiges Instrument, um weitere gesellschaftliche und rechtliche Fortschritte anzustoßen und die Anerkennung der Gebärdensprache in Deutschland kontinuierlich voranzutreiben.
Fazit: Der Tag der Gebärdensprache in Deutschland verbindet Vergangenheit und Zukunft – er erinnert an die historische Errungenschaft der Gebärdensprache als eigenständige Sprache und treibt gleichzeitig aktuelle Forderungen für eine inklusive Gesellschaft voran. Durch Aufklärung, Kultur und Engagement trägt dieser Aktionstag jedes Jahr dazu bei, dass die Stimmen (und Hände) der Gehörlosengemeinschaft gehört und gesehen werden.
 
